Die Diagnose einer chronischen Erkrankung bedeutet oft einen tiefen Einschnitt in das vertraute Leben. Vor allem für die Betroffenen, aber auch für den/die Partner:in, Angehörige und Freund:innen. Wie der Umgang damit gelingen kann, erfahren Sie in unserem Interview mit Tatiana Schildt, Systemischer Coach und Therapeutinaus Hamburg.
Wünschenswert ist, dass sich die behandelnden Ärzt:innen wirklich Zeit nehmen für ausführliche Aufklärungsgespräche. Betroffene brauchen medizinische Informationen, sie müssen aber auch auf der emotionalen Ebene abgeholt werden. Dazu gehört die Empfehlung, von Anfang an neben der medizinischen auch eine psychologische Begleitung in Anspruch zu nehmen.
Professionelle Unterstützung kann helfen, schon früh einen aktiven Umgang mit der Erkrankung zu finden. Lässt man das zu lange schleifen, können sich Sorgen und Ängste verstärken und zusätzlich in eine depressive Verstimmung münden. Führen Betroffene dagegen offene Gespräche über ihre Situation und erkennen Ihre Handlungsspielräume und Möglichkeiten, entsteht ein neues Potenzial: Sie lernen aktiv mit der Erkrankung umzugehen und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen. Das wirkt dem unliebsamen Kontrollverlust entgegen.
Sie sollten Gespräche anbieten. Lassen sich Betroffene darauf ein, gilt es, deren Ängste und „Worstcase-Szenarien“ zuzulassen. Angehörige sollten vermitteln: Du bist nicht allein, wir gehen da zusammen durch.
Sie können anbieten, etwa Informationen über die Erkrankung oder Therapieangebote einzuholen, aber auch Alltagstätigkeiten zu übernehmen. Ganz wichtig ist jedoch: Angehörige sollten nur in dem Maße unterstützen, wie es für die Betroffenen okay ist. Das heißt: Sie müssen sich immer wieder auf’s Neue die Erlaubnis zu helfen abholen. Damit bleiben die Betroffenen in der eigenen Verantwortung.
Sie sollten nicht zu viele Ratschläge geben. Man sagt ja manchmal: Ratschläge sind auch Schläge. Weil daran oft die Erwartung geknüpft wird, dass Betroffene sie auch umsetzen. Diese Form der Bevormundung kann zu massiven Widerständen führen.
Erst einmal sollte man den Druck rausnehmen. Es ist ja utopisch zu sagen, von heute auf morgen ändere ich mein Leben. Die Betroffenen müssen eine positive Entscheidung für eine Veränderung treffen. Das heißt, sie müssen einen Sinn darin sehen, etwa bestimmte Ernährungsgewohnheiten umzustellen oder sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Dann gilt es, sich erreichbare Ziele zu stecken: Zum Beispiel bei einem Herzpatienten, vier Wochen lang auf’s Rauchen zu verzichten oder jeden Tag eine kleine Runde spazieren zu gehen. Gelingt das nicht, sollte man schauen: Was behindert mich? Welche äußeren Einflüsse, aber auch welche inneren Widerstände? Dann kann man gezielt nach einem neuen Ansatz suchen. Bei alldem können Therapeuten, aber auch Angehörige, wertvolle Hilfe leisten.
Bildlich gesprochen: Stellen Sie sich eine neue Verhaltensweise als zarte Nervenverbindung in unserem Gehirn vor. Mit jeder Wiederholung wird aus einem schmalen Pfad ein breiterer Weg und schließlich eine gut ausgebaute Straße, die wir gern und selbstverständlich benutzen. Um diesen Ausbau zu erleichtern, sollten wir neue Verhaltensweisen mit positiven Bildern verbinden und uns belohnen. Etwa stolz sein auf die zehn Kniebeugen, die wir geschafft haben; uns vorstellen, wie daraus mehr und mehr werden und wie uns damit das Treppensteigen zunehmend leichter fällt. Mit den Erfolgserlebnissen wächst meist auch die Motivation.
Ganz wichtig: Selbst wenn man es mal nicht schafft, ist das kein Zeichen von Schwäche, sondern zeigt nur, dass alte Gewohnheiten wie gut ausgebaute, vertraute Straßen sind, die wir immer noch gern benutzen. Betroffene sollten also stets wohlwollend sich selbst gegenüber bleiben – und weiter an ihrem neuen „Straßennetz“ bauen.
Ein Rückzug ist eine allzu verständliche Reaktion. Wichtig ist deshalb, von außen nicht noch zusätzlich Druck aufzubauen, das würde die Situation eher verschärfen! Stattdessen können Angehörige wohl dosiert Angebote machen, etwa zu Spaziergängen oder zu Gesprächen. Gerade in solchen Fällen ist aber auch professionelle Hilfe zu empfehlen.
Sehr hilfreich ist es, wenn man eine/n Therapeut:in findet, die Betroffene und Angehörige jeweils allein, auf Wunsch aber auch gemeinsam aufsuchen können – und zu der/dem man mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis aufbaut. Wenn die Beteiligten sich gut aufgehoben fühlen, ist das ein wertvoller Teil der „Medizin“.
Angehörige sollten kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie vermeintlich zu wenig unterstützen. Indem sie sich um sich selbst kümmern, sammeln sie Kraft, die langfristig auch den Betroffenen zugutekommt. Auf jeden Fall sollten Angehörige von chronisch Kranken Freund:innen, andere Familienmitglieder oder auch Therapeut:innen suchen, mit denen sie ihre Ängste besprechen können. Viele bedrückt zum Beispiel, dass ihr/e Liebste/r sterben könnte, dass er/sie pflegebedürftig wird, oder auch mögliche Einschränkungen im eigenen Leben. Auch diese Gedanken und Gefühle brauchen therapeutische Unterstützung.
Es ist tatsächlich wichtig, sich nicht komplett von der Krankheit vereinnahmen zu lassen, das gilt für Betroffene und Angehörige gleichermaßen. Man sollte sich bewusst Zeit für Lieblingsaktivitäten nehmen und Inseln des Genusses schaffen, in denen die Krankheit in den Hintergrund rückt – damit man durchatmen und wieder Kraft tanken kann. Dabei hilft auch, ein Positiv- oder Dankbarkeit-Tagebuch zu führen, in das man jeden Abend eine kurze Notiz schreibt, was heute schön war und wofür man dankbar ist. Eine Kleinigkeit gibt es immer.
Das ist richtig. Ganz gleich, ob jemand vor seiner Erkrankung wie ein Sonnenschein oder eher schwermütig durchs Leben gegangen ist: Die Resilienz-Forschung sagt, dass jeder nach einer Erfahrung, die sie/ihn tief erschüttert hat, den psychischen Ursprungszustand wiederherstellen kann. Auch wenn eine Heilung nicht möglich ist, können wir erleben, dass wir nicht ohnmächtig sind, sondern unser Leben weiter gestalten können. Das stärkt die Psyche und aktiviert Selbstheilungskräfte – diesen Hebel sollten Betroffene und Angehörige gemeinsam nutzen.
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